Als Kurt Goldstein in den dreißiger Jahren des 20.Jh. den Begriff Selbstverwirklichung prägte, und Abraham Maslow in den 50 Jahren zur Umschreibung größter menschlicher Daseinserfüllung benutzte, ahnten beide Wissenschaftler nicht, dass eine ganze Generation ihn missverstehen würde.

Die Folge war narzisstische Entgleisung auf diversen Ebenen unserer Gesellschaft. Mütter ließen ihre Kinder im Stich, um sich selbst zu verwirklichen, Väter verprassten ihre Ersparnisse, um sich endlich etwas Luxus zu gönnen, Kinder verklagten ihre Eltern auf Finanzierung ihrer Wünsche, Ehen brachen am laufenden Band, weil keiner mehr den Ansprüchen des Partners gewachsen war.

Vor der Jahrtausendwende begannen sich die Wogen zu glätten: die Einforderung der Bedürfnisbefriedigung hatte sich nicht bewährt.

Wie ist der Begriff Selbstverwirklichung demgegenüber richtig zu verstehen? Nun, unser Selbst verwirklichen wir auf jeden Fall. Jede Entscheidung, die wir treffen ist zugleich eine Entscheidung über den Mann oder die Frau, zu dem oder zu der wir werden. Es kommt lediglich darauf an, ob uns dieses Selbst gefällt, für das wir uns entscheiden. Begehen wir einen Raub, verwirklichen wir uns als Räuber/in. Lehren wir an einer Schule, verwirklichen wir uns als Lehrer/in. Singen wir im Chor,… Werfen wir Müll in den Wald,…

Das Problem ist nicht, ob wir uns selbst verwirklichen, sondern als was oder wer wir uns verwirklichen.

Ist es wertvoller, sich als Chorsänger/in oder als Räuber/in zu verwirklichen…

Dass wir uns verwirklichen, geschieht sozusagen automatisch, allein zu welcher Identität hin wir uns verwirklichen, ist von lebensentscheidender Bedeutung. Bei einer richtig verstandenen und positiv gelungenen Selbstverwirklichung sind keineswegs alle unbefriedigten menschlichen Bedürfnisse gestillt worden, sondern es ist die Welt ein klein wenig heller, gütiger, sanfter geworden, durch dieses Selbst, das sich da verwirklicht hat, indem es gewirkt hat auf seine eigene, unverwechselbare, persönliche und fruchtbare Art.

Aus: Elisabeth Lukas „Auf den Stufen des Lebens. Bewegende Geschichten der Sinnfindung.“ (topos plus 2018)